2022 Aufruf für den 11. Juni, dem Internationalen Tag der Solidarität mit Marius Mason und allen anarchistischen Langzeitgefangenen

Während die Zeit voranschreitet und die Jahreszeiten wechseln, nähern wir uns wieder einmal dem 11. Juni, dem Internationalen Tag der Solidarität mit Marius Mason und allen anarchistischen Langzeitgefangenen. Ein weiteres Jahr ist vergangen und viele unserer lieben Gefährt*innen sind nach wie vor Gefangene des Staates und seiner täglichen Unterwerfung, Isolation und Brutalität ausgesetzt. Der 11. Juni ist eine Zeit, in der wir die immer schneller werdende Hektik unseres Lebens anhalten und uns erinnern.

Erinnern wir uns an unsere inhaftierten Gefährt*innen. Erinnern wir uns an unsere eigene Geschichte der Revolte. Erinnern wir uns an die – manchmal flackernde, manchmal lodernde – Flamme des Anarchismus.

WIR SIND ALLE POTENZIELLE GEFANGENE

Mit dem 11. Juni wollen wir eine Kritik am Gefängnis vertiefen, die die Unterscheidung zwischen Gefangenen und Unterstützenden in Frage stellt. Für uns sind diese Unterschiede bedingt: wir als Anarchist*innen sehen uns als potentielle Gefangene. Einige von uns waren es, einige werden es sein. Dies ist die Grundlage unserer Solidarität – eine Anerkennung unserer selbst in der Notlage der Gefangenen.

Das Grenze zwischen Gefangenen und Unterstützenden kann nur als fließend angesehen werden, wenn man auf die Beispiele von inhaftierten und ehemals inhaftierten Gefährt*innen blickt: Marius Masons Tätigkeit für das Anarchist Black Cross, Bill Dunnes Befreiung eines anarchistischen Gefangenen, Pola Roupas Versuch, anarchistische Gefangene mit dem Hubschrauber zu retten, Claudio Lavazzas Aktionen zur Befreiung von Gefangenen. Die Verbindungen vertiefen sich, wenn man bedenkt, dass zahlreiche anarchistische Gefangene wegen Angriffen auf Gefängnis-, Justiz- und Polizeieinrichtungen eingesperrt sind; und dass andere uns mit Gefangenenaufständen von Kalifornien und Alabama bis Griechenland und Italien in Verbindung bringen.

 

SOLIDARITÄT BEDEUTET…

Wir haben immer gesagt, dass „Solidarität Angriff bedeutet“, aber wir müssen erkennen, dass Slogans uns keinen Weg nach vorne in unseren Kämpfen bieten. Wenn „Angriff“ auf eine begrenzte Auswahl von Aktivitäten beschränkt wird, schneiden wir uns von einer umfassenderen Vision des anarchistischen Kampfes ab. Wenn wir über die bloße Wiederholung von fetischisierten Aktionen hinausgehen, welche Möglichkeiten eröffnen sich uns dann? Solidarität bedeutet Angriff, ja, aber was bedeutet sie noch?

In diesem Sinne möchten wir einen Vorschlag machen: Anstatt das zu tun, was ihr immer für den 11. Juni tut, versucht etwas Neues. Wenn Ihr Euch normalerweise darauf konzentriert, Gefangenen materielle Hilfe zu leisten, dann macht etwas gegen einen Teil des Gefängnissystems in Eurer Stadt. Wenn du normalerweise nachts unterwegs bist, um anzugreifen, versuche etwas zu tun, um einen anarchistischen Gefangenen direkt zu unterstützen. Es geht nicht darum, die falsche Dichotomie zwischen direkter Aktion und Care-Arbeit weiter zu verfestigen, sondern darum, unsere verknöcherten Rollen zu hinterfragen. Indem wir neue Dinge ausprobieren, können wir erkennen, dass die Mauern, die den*die engagierte*n Unterstützer*in und den*die engagierte*n Saboteur*in trennen, immer illusorisch waren, dass unsere Vorstellungskraft weitreichender ist, als wir dachten, und dass wir individuell und kollektiv zu mehr fähig sind, als wir uns zutrauen.

Im Mittelpunkt unserer Vision von Solidarität steht die Aufrechterhaltung der Verbindungen, die uns mit unseren Gefährt*innen hinter Gittern verbinden. Wir sollten die Projekte, Kämpfe und Bewegungen, für die sie so viel von sich selbst geopfert haben, am Leben erhalten. Unsere Verbindungen zu anarchistischen Gefangenen gehen von einer Gemeinsamkeit aus – dem gemeinsamen Wunsch, die Welt direkt in eine befreiende und egalitäre Richtung zu verändern. Daher sollte unsere Solidarität darin wurzeln, dass wir Gefangene in unsere Projekte einbeziehen und uns selbst in ihre Projekte investieren. Wir wollen, dass entlassene Anarchist*innen in eine Welt lebendiger Debatten, Zusammenarbeit und Aktionen eintreten, und wir wollen dies auch hinter den Gefängnismauern so weit wie möglich fördern. Das kann so einfach sein wie das Senden von Nachrichten über lokale Kämpfe an einen Gefangenen oder das Drucken von Erklärungen von Gefangenen, um sie bei Veranstaltungen zu verteilen. Wie bei jedem Aspekt der Solidarität sind wir nur durch unsere Phantasie und unser Engagement begrenzt.

Wir sollten zwar Kämpfe in den Gefängnissen unterstützen, wenn sie stattfinden, aber wir sollten darauf achten, dass wir die Last des Kampfes gegen das Gefängnissystem nicht allein den Gefangenen aufbürden. Diejenigen, die im Gefängnis sitzen – unter Bedingungen extremer Kontrolle, Überwachung und Einschränkung – sind in vielerlei Hinsicht am wenigsten in der Lage, aktiv gewinnbare Kämpfe gegen Gefängnisinstitutionen zu führen. Diejenigen von uns, die in relativer Freiheit leben, haben die Möglichkeit, strategisch darüber nachzudenken, welche Aktionen und Orte des Kampfes sich am positivsten auf das Leben der Menschen im Gefängnis auswirken und den größten Beitrag zum Abbau des Gefängnissystems leisten würden. Da das Gefängnis unweigerlich mit zahlreichen Unternehmens- und Staatsinstitutionen verbunden ist, sind die Feinde überall: Wo können wir gewinnen?

Die Unterstützung von Gefangenen ist auch eine Möglichkeit, verschiedene Kämpfe zusammenzuführen, wie uns die letzten Jahrzehnte gelehrt haben. Von der Black Liberation Army über die Earth Liberation Front bis hin zu den Grand Jury Resistors[i], Anti-Polizeiaufständen und Land and Water protectors[ii] – alle Befreiungskämpfe werden zwangsläufig zu staatlicher Repression und Inhaftierung führen. Indem wir eine unterstützende Infrastruktur und Kultur aufbauen, indem wir das Gefängnis zu einer weniger vollständigen Isolation und Entfernung machen, stärken wir jeden Aspekt der Herausforderung dieser Gesellschaft. Wir finden auch zueinander, lernen voneinander, bereichern uns gegenseitig.

 

GEFANGENEN-UPDATES

Marius Mason hat seine lang ersehnte Verlegung in ein Männergefängnis erreicht und ist damit wahrscheinlich der erste trans Mann, der eine solche Verlegung innerhalb des Bundesgefängnissystems erreicht.

Die italienische Gefängnisverwaltung hat im Oktober damit begonnen, die Korrespondenz von Alfredo Cospito zu zensieren. Die Behörden beschuldigten ihn der Anstiftung zu Straftaten und beriefen sich dabei auf seine Veröffentlichungen in der anarchistischen Zeitung Vetriolo. Diese Repression ist Teil der Operation Sibilla, bei der die italienische Polizei zahlreiche anarchistische Räume durchsucht und Websites rund um Vetriolo geschlossen hat, um die Veröffentlichung und Verbreitung ihrer subversiven Ideen zu verhindern.

Marios Seisidis ging im Juli vor Gericht, um gegen die gegen ihn erhobene Anklage Berufung einzulegen, unterstützt von Anarchist*innen, die sich aus Solidarität vor dem Gericht versammelten.

Claudio Lavazza erhielt einen Aufschlag von fünf Jahren auf seine fünfundzwanzigjährige Haftstrafe. Sein Rechtsbeistand versucht, einen früheren Bewährungstermin zu erreichen.

Eric King musste sich vor einem Bundesgericht verantworten, weil er 2018 von Gefängnismitarbeitern angegriffen und gefoltert worden war. Die Geschworenen befanden ihn für nicht schuldig und sein Anwaltsteam reicht nun eine Klage gegen die Gefängnisverwaltung ein. Zurzeit wird Eric verlegt und ist weiterhin das Ziel eines rachsüchtigen Gefängnissystems.

Michael Kimble wurde im Juni von einem Vollzugsbeamten angegriffen und anschließend in Einzelhaft gesteckt, bevor er verlegt wurde. Ihm wurde erneut die Bewährung verweigert, mit der Begründung, dass er wegen Arbeitsverweigerung und einer Auseinandersetzung mit einem Justizvollzugsbeamten disziplinarisch vorgeladen wurde.

Auch Sean Swain wurde die Entlassung auf Bewährung verweigert, was er als Vergeltungsmaßnahme des Gefängnispersonals für seine Äußerungen und die von ihm eingereichten Zivilklagen ansieht. Inzwischen wurde er von Virginia zurück in das OSP Youngstown in Ohio verlegt. Seine Unterstützer*innen vermuten, dass er bald erneut verlegt werden wird.

Immer mehr Angeklagte aus dem Aufstand von 2020 in den USA werden verurteilt, einige wurden freigelassen, andere müssen ihre Strafe absitzen. Einige befinden sich noch in Untersuchungshaft und müssen mit langen Haftstrafen rechnen. Die Auswirkungen dieser Repression werden noch viele Jahre lang zu spüren sein. Möge die Qualität unserer Unterstützung für diese Angeklagten uns stärker machen, als wir es bisher waren.

In Chile wurde der Anarchist Joaquín García im vergangenen Juni zusammen mit mehreren subversiven Gefangenen in das Hochsicherheitsgefängnis von Rancagua verlegt. Im Oktober wurde er zusammen mit 20 anderen Gefangenen von etwa 50 Wärtern angegriffen, woraufhin er für 24 Stunden in Einzelhaft genommen wurde. Dies geschah, nachdem sie sich mit Pablo „Oso“ Bahamondes Ortiz solidarisiert hatten, der wegen Waffen- und Sprengstoffbesitzes zu 15 Jahren Haft verurteilt worden war. Francisco Solar, ein weiterer Anarchist, der in Rancagua inhaftiert ist, wurde im vergangenen Herbst wegen einer nicht diagnostizierten Diabeteserkrankung ins Krankenhaus eingeliefert. Er und Mónica Cabellero wurden mehrerer Bombenanschläge beschuldigt, nachdem seine DNA bei einer Verhaftung wegen Graffiti heimlich entnommen worden war, und beide befinden sich seit Juli 2020 in Präventivhaft. Im Dezember 2021 übernahm er die Verantwortung für die Bombardierung von Polizeistrukturen, in Solidarität mit den Revolten ab 2019 und den von der Polizei verletzten und ermordeten Menschen, denn „niemand und nichts ist vergessen.“ Einige Tage später war Mónica in eine Schlägerei mit einer weiteren Gefangenen verwickelt, die ihre Familie als eine vom Gefängnis inszenierte Provokation bezeichnete. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts liegen noch keine Informationen über die Verurteilung oder ein Entlassungsdatum für diese beiden Anarchist*innen vor.

Siarhei Ramanau, Ihar Alinevich, Dzmitry Rezanovich und Dzmitry Dubousky wurden Anfang dieses Jahres wegen direkter Aktionen gegen Ziele der belarussischen Regierung zu je 18-20 Jahren verurteilt, nachdem sie bereits seit 2019 in Untersuchungshaft saßen. Nach der Urteilsverkündung wurde bekannt, dass sie von Wärtern gefoltert wurden, was zu einem Geständnis führte. Da Anarchismus unter der anhaltenden Diktatur kriminalisiert wird, drohen mindestens zwei weiteren Gruppen jeweils mehrere Jahre für ihren Dissens.

Die russischen Behörden haben den jugendlichen Anarchisten Nikita Uvarov zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er sich verschworen hatte, den Föderalen Sicherheitsdienst in Minecraft (ja, das Videospiel) in die Luft zu sprengen und kleine Feuerwerkskörper zu bauen. Zwei seiner Altersgenossen erhielten Bewährungsstrafen für ihre angeblichen Verbrechen im Alter von 14 Jahren. ABC Moskau hat berichtet, dass die Repression zugenommen hat (obwohl es dort keine neuen Verfahren gegen Anarchist*innen und Antifaschist*innen gibt) und dass sie begonnen haben, ihre Ressourcen auf humanitäre Bemühungen umzulenken, während Russland seine mörderische Invasion in der Ukraine fortsetzt.

Auch das Anarchist Black Cross Dresden konzentriert sich auf die Unterstützung derjenigen, die in der Ukraine kämpfen oder aus der Ukraine fliehen. Diese Neuausrichtung ihrer Unterstützung bedeutet, dass sie sich an der Finanzierung von Solidaritätsgruppen wie „The Black Headquarter“ beteiligen, die Freiwillige versammeln, um sich den russischen Streitkräften entgegenzustellen und auch versuchen, einen autonomen Raum in Opposition zum ukrainischen Staat selbst zu schaffen. Unter dem Banner der schwarzen Flagge vereinen sich Anarchist*innen und Antiautoritäre gegen nationalstaatliche Konzepte von Krieg und Frieden. Es ist erwähnenswert, dass 1918 in der Ukraine Gruppen des Anarchist Black Cross gegründet wurden, um die Schwarze Armee zu unterstützen, die sowohl die sowjetischen als auch die zaristischen Streitkräfte bekämpfte, die von Russland aus einmarschierten.

In England wurde Toby Shone wegen des Besitzes von Psychodelika (bei koordinierten Razzien in kollektiven anarchistischen Häusern) zu fast vier Jahren Haft verurteilt, nachdem die Terroranklagen im Zusammenhang mit dem angeblichen Betrieb der Gegeninformations-Website 325 nicht aufrecht erhalten werden konnten. Obwohl es der Regierung nicht gelungen ist, ihm die Mitgliedschaft im 325-Kollektiv, in der Informal Anarchist Federation/International Revolutionary Front, in der Earth and Animal Liberation Front und die Beteiligung an entsprechenden Brandstiftungen und Schriften nachzuweisen, muss er immer noch gegen eine Anordnung zur Verhinderung schwerer organisierter Kriminalität („Serious Organised Crime Prevention Order“) ankämpfen, die ihn einem streng überwachten fünfjährigen Hausarrest unterwerfen würde, der die Entwicklung der Inhaftierung durch einen zunehmend digitalisierten Staatsapparat zum Ausdruck bringt.

 

VORWÄRTS

Die Ausweitung von Hausarrest und Überwachung ist nicht neu, nimmt aber weiter zu, da die Gefängnisgesellschaft durch technologische Fortschritte immer weiter in den Alltag eindringt. Auch die Kriegsführung wird immer digitaler, von Drohnenangriffen bis zum Hacking, während der staatlich sanktionierte Mord in seiner ganzen Endgültigkeit weitergeht. Es mag uns an Details über Anarchist*innen fehlen, die in ihrem Streben nach Freiheit in den laufenden Kämpfen im Sudan, in Afghanistan und Syrien niedergeschlagen oder inhaftiert wurden – dennoch bewegen sie auch unsere Gedanken und Handlungen. Während der Staat in all seinem strafenden Verderben, Töten und Einsperren fortfährt und wir eine gemeinsame Basis mit denen finden, die in dem Bemühen kämpfen, unsere Macht zu vergrößern und diejenigen zu destabilisieren, die versuchen, uns zu kontrollieren – tragen wir die Gefallenen und Gefangenen mit uns in unseren Beziehungen zu ihnen und durch einen anhaltenden Konflikt mit dem Bestehenden.

Ideen für mögliche Aktionen findet ihr auf unserem Blog, in dem wir seit Jahren Berichte archivieren. Wer nach Materialien zum Ausdrucken und Weitergeben sucht, findet sie unter Ressourcen. Und, am wichtigsten: eine Liste anarchistischer Gefangener, an die man schreiben kann.

Wir sind gespannt auf die Veranstaltungen, Aktionen, Erklärungen und andere Beiträge zum diesjährigen 11. Juni.

Für die Anarchie!

 

[i] Es geht um das Verweigern der Zeug*innenaussage vor einer Grand Jury (Geschworenengericht), was eine Beugehaft zur Folge haben kann.

[ii] „Land- und Wasserschützer*innen“ bezeichnet in den USA meist aus indigenen Communities kommende Aktivist*innen die Land oder Wasser gegen Konzerne oder den staatliche Eingriffe verteidigen bzw. gegen Pipelines etc.